mein leben als briefmarke

mein leben als briefmarke:
eher flach. nicht im sinne von langweilig, sondern dünn. dünn wie kopierpapier. woher ich das weiß? na, in unserer filiale gibt es einen "shop" mit büromaterial.
ich bin eine von den querformatigen. selbstklebend. mich also muss niemand mit wasser bestreichen, oder gar - igitt! - ablecken, damit ich auf brief oder karte kleben kann.
gestern wurde ich verkauft. ich und 5 meiner mit-marken. wir werden ja zu sechst eingepackt.
freilich ist es so, dass wir darauf vorbereitet waren, denn wir sahen ja täglich, dass menschen münzen gegen marken tauschten.
aber jetzt, jetzt ist es wirklichkeit geworden. wir wurden eingesteckt, und ab da: völlige dunkelheit. dunkelheit und bewegung. war das ein erdbeben, wie das, von dem letzte woche in der zeitung, die mir gegenüber hing, berichtet wurde? hmmm. erdstöße: das konnte hinkommen. ach, nein! so fühlt es sich an, wenn ein  mensch geht!
eine ewigkeit brummte es, dann wieder geht die dame mit uns in der tasche ein stück. schlüssel klimpern, wir hören eine große türe ins schloss fallen. noch: dunkelheit. und dann wurden wir auf einem tisch abgelegt. über uns eine freundliche glühbirne mit großem lampenschirm.
und hier liegen wir noch. wenn ich mich umsehe, kann ich ein regal erkennen, und 2 türen, die ins zimmer führen. 1 davon ist nur angelehnt, dann plötzlich beginnt sie, sich lautlos zu öffnen.
nichts zu sehen. doch jetzt! ein schatten! ein tier?! ein kleiner hund? und es war kein schatten, sondern es war einfach ein dunkelschwarzes tier. kurze ohren, relativ lange beine, langer schwanz, lange haare. solch einen hund habe ich noch nie gesehen!
aus dem mund des hundes kommt ein seltsames bellen, das keines ist, und er springt mit einem satz auf unser pult. wow! er ist gar nicht so klein. ALAAARM!!  er versucht, mich mit seinen vorderbeinen über die kante zu schieben! ich blicke in den abgrund. unter mir immerhin ein flauschiger teppich. ich falleeeee! mit mir meine mit-marken. von nun an gings bergab. das schwarze Tier blitzschnell hinter uns her, und volle kraft voraus auf uns drauf.
die andere türe öffnet sich mit schwung und die dame, die für uns münzen eingetauscht hat, kommt hereingestürzt, schnappt sich das fellige schwarze etwas, und schimpft: "böses katzentier! wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du am tisch nichts verloren hast!! ab in den garten mit dir!" , und sie trägt das tier aus dem zimmer hinaus
uns legt sie wieder auf den tisch, nimmt einige mit einem kleinen bildchen und text bedruckte papierseiten, faltet sie zusammen, gibt ein jedes in ein schlichtes grünes kuvert und klebt je eine von uns oben auf den briefumschlag.
vorne am kuvert steht bereits der adressat, hinten der absender.
die dame murmelt "...hätte sich so gefreut... ach, Sally ...", zieht sich schuhe und weste an und  geht mit uns aus dem haus.
wir sehen nicht, wohin es geht, jedoch schon nach kurzer zeit werden wir aus der handtasche genommen und in einen gelborangen briefkasten geworfen. aufgeregt, wie wir sind, hören wir nicht, wie der Postkasten geöffnet wird, wir werden ratzfatz in säcke gefüllt, mit gebrumm und geknatter anderswo hin gebracht. dort ist große verteilung: nach links, rechts, in verschiedene kisten oder auf eine sich vorwärts bewegende ebene. ich wache in einem karton auf. dort kenne ich niemanden. macht nichts. ein postbote nimmt mich mit meinem kuvert heraus, zieht eine augenbraue hoch und meint: "ah! na sowas! dann sollst du heute mein erster sein!"
er geht auf eine wunderschöne rote haustüre zu und zieht an der glockenschnur. ich höre schlurfende  schritte sich nähern.
 ein schlüssel dreht sich im schloss und ein lächelnder briefträger grüßt, gibt mich einer recht alten, verhutzelten frau in die faltige hand und verabschiedet sich von ihr.


sie öffnet das kuvert, wirft einen blick hinein und sagt zu sich: " na sowas. das ist ja eine halbe ewigkeit her. hmmm... schon morgen... ach nein. das  braucht mehr zeit. will wohl überlegt sein! und überhaupt: was anziehen? seit jahren nur gedeckte farben. aber sie schreibt: fröhlich. bunt. blumen...? na, öffnen wir mal den schrank. ein gottesentscheid. etwas finden das gefällt  UND passt: dann spricht nichts  gegen den  nachmittäglichen besuch. wenn nicht, ist es zu hause auch schön.
ich liege mit dem brief auf einer küchenkredenz und harre der dinge, die da kommen mochten.
dann muss ich eingedöst sein, jedenfalls sieht die alte frau jetzt viel weniger alt aus und trägt eine rot geblümte bluse zu einem weiten, langen rock.
wir machen uns schon auf den weg. wohin? nun, ich weiß es nicht. diesmal brummt es nicht, sondern es schaukelt nur ein wenig. tippetitappedi tippeditappedi tippeditappedi...
nicht lange, und wir bleiben stehen. ein tor öffnet sich knarzend und eine fröhliche stimme,- ich erkenne sie als die dame, die uns gekauft hatte-  heißt uns willkommen. "wie schön, dass Sie kommen konnten, Adele! ich freu mich! dort unterm nussbaum warten schon die anderen. Sie kennen sich ja! nehmen Sie  sich einstweilen zu trinken, wasser oder melissensaft,- ich komme gleich mit dem kaffee!"
es sind zwei herren und vier damen, alle zwischen 73 und 81 jährchen jung, die sich hier unter dem wundervollen, ausladenden nussbaum zusammengefunden haben. eigentlich ja  zusammengefunden wurden.
"weisst du noch? wie die Mizzi mit dem Moped bis nach Stralsund gefahren ist und uns eine karte geschrieben hat? die karte war über 9 wochen unterwegs, da war die Mizzi schon 5x wieder daheim. das hats bei uns nie gegeben! da waren wir schon immer fixer."
"und  bei deiner pensionierung, Adele? als dem  Herrn Postvorstand dein name nicht und nicht einfallen wollte...?"
"ja, da gibt es schon erinnerungen. gute 40 jahre in amt und würden. eine lange zeit..."
"der kaffee ist fertig!, meine damen, meine herren!" "ich bin froh, dass  Sie alle kommen konnten! insbesondere Herr Alfred mit Rollator und Frau Fanny, die noch einige wochen auf ihre Krücken angewiesen ist. ich habe mit ihnen vor jahren die post ausgetragen, war das kücken im amt. ab nächstem monat bin ich in der von mir so freudig erwarteten altersteilzeit!- nur noch 24 stunden die woche! Sie alle haben zusammen gearbeitet, mein Herr Papa, der vor 4 jahren verstorben ist, ebenso. als er noch gesund war, kamen Sie 1x im monat zu kaffee und kuchen in unserem garten zusammen. oder im winter vor den offenen kamin im wohnzimmer. nach und nach hörten dann die besuche auf.  ich finde, wir sollten uns hin und wieder treffen. essen, trinken, über alte zeiten plaudern, vielleicht eine runde mensch ärgere dich nicht, oder canasta? ...  was meinen Sie? und erinnern Sie sich an Sally? sie hatte immer eine unbändige freude, wenn Sie zu uns kamen! flauschiges fell. liebes wesen. so ein schöner und kluger Retriever!..."
in meiner tasche war es dunkel, aber mein kleines briefmarkenherz schlug heftig. und 5 zarte stimmen riefen aus den tiefen von sakko, weste und handtaschen: "nehmt mich mit, ich möchte mehr von diesen geschichten hören...!"
 "weg vom kuchen, aber flott!" ruft die dame ihrem  hund, der eine katze ist, zu. das schwarze felltier pfaucht.

ranec/31.12.2021